Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: der Preis lohnt sich! Wir möchten euch hier ein paar Anregungen geben, eure (gemeinsame) Sexualität neu zu entdecken. Das meiste erfordert nebst der (gegenseitigen!) Bereitschaft auch etwas Übung, Geduld und Zeit. Manchmal auch Mut. Vielleicht ist es nötig, alte Gewohnheiten radikal fallen zu lassen und sich auf das Ungewohnte, das Fremde und Ergebnisoffene einzulassen.
Wenn ihr das Gefühl habt, sexuell am Ende des Tellerrandes angekommen zu sein, kann es erfrischen, wenn ihr euch mal genauer mit eurer Solo-Sexualität beschäftigt. Denn wie ihr gelernt habt, euch selbst zu befriedigen, hat einen grossen Einfluss auf das sexuelle Erleben in der Paarsexualität. Beobachtet euch für eine Zeitlang bei der Selbstbefriedigung und achtet dabei auf folgende Fragen:
Experimentiert und probiert neue Variationen der Selbststimulation. Das ist für die Meisten ungewohnt, da wir uns im Laufe unseres Sexualisierungsprozesses meist diejenige Variante der Selbstbefriedigung zu eigen gemacht haben, die für uns (am besten) funktioniert. Durch diese Konditionierung schränken wir die Möglichkeiten unseres Lustempfindens jedoch unweigerlich ein. Je mehr neue Variationen wir in die Art und Weise, wie wir uns selbst stimulieren einbauen, desto mehr fördern wir unsere sexuelle Sensibilität, was uns wiederum variantenreicheres sexuelles Erleben – vor allem auch in der Paarbeziehung – ermöglicht.
Ihr könnt euch als Paar auch gegenseitig stimulieren oder euch dabei zuschauen, wenn euch das anmacht. Wenn ihr euch bei diesem Gedanken unwohl fühlt, ist das auch voll okay, es lohnt sich aber vielleicht darüber zu reden, warum das so ist. Wenn sich lieber jede Person für sich erforscht, könnt ihr euch ggf. auch einfach eure “Forschungsergebnisse” mitteilen. Auch das kann aufregend sein und neue Perspektiven auf die gemeinsame Sexualität eröffnen!
Wichtig: Euer Körper braucht Zeit um sich an neue Arten von Berührung zu gewöhnen und diese als lustvoll zu erfahren. Mehrere Monate (oder auch bis zu einem Jahr) dürft ihr gerne als Zeithorizont auftun.
Sich selbst im Solo-Sex zu erkunden ist übrigens auch eine gute Möglichkeit Sexualität weiterzu(er-)leben, wenn für die Paarsexualität tatsächlich wenig Raum ist. Solche Phasen gibt es im Leben. Die Zeit nach der Geburt und die Kleinkindphase sind bestimmt eine davon. Bleibt dennoch über eure (gemeinsame) Sexualität im Austausch, auch wenn sie gerade nicht gemeinsam ausgelebt wird!
Penetrativ-vaginaler Sex ist für viele Menschen durchaus eine lustvolle Praktik. Wir fokussieren uns aber so sehr darauf, dass es einengend werden kann. Es gibt viel zu gewinnen, wenn wir nicht auf vaginale Penetration angewiesen sind. Tauscht euch mit eurer Beziehungsperson über alternative sexuelle Praktiken zu klassischem Penetrationssex aus. Was könnt ihr euch alles vorstellen? Was möchtet ihr gerne ausprobieren? Was turnt euch vielleicht in Gedanken bereits an?
Als Unterstützung und Inspiration sei hier das überaus empfehlenswerte Buch “Kommt gut” von Jüne Plã erwähnt, welches ihr nachfolgend unter Tipps findet. Nebst der Tatsache, dass es sehr gut und schön illustriert ist, liefert es unzählige spannende und heisse Vorschläge für nicht-penetrativen Sex. Ausserdem bietet es eine wundervolle Basis um euer eigenes (sexuelles) Körperempfinden achtsam zu erkunden und darüber auch in einen intimen Austausch mit eurem Gegenüber zu treten.
Beim “normalen” Sex geht es in der Regel darum, so erregt wie möglich zu werden, um dann (am besten gemeinsam) zum Orgasmus zu kommen. Dies gelingt allerdings oft nicht oder nur einem von beiden und bedingt zudem eine Menge an Stimulation und Spannungsaufbau. Im Unterschied ist Slows Sex nicht auf den Orgasmus fixiert. Es gibt kein bestimmtes Ziel, das sexuelle Miteinander ist ergebnisoffen. Der Orgasmus wird nicht kategorisch ausgeschlossen, es liegt jedoch kein Fokus darauf. Damit verringert sich der Leistungsdruck auf beiden Seiten und es kommt nicht zu dem typischen “Energieabfall” welcher auf den Orgasmus folgt, insbesondere bei Männern. Zudem wird Sex entspannter. Einerseits ist oft Stress im Spiel, wenn uns das sexuelle Verlangen überwältigt. Es “drängt”, es “eilt”, es “muss”. Andererseits kann man sich auf Slow Sex auch gut einlassen, wenn erstmal keine Erregung und kein Verlangen da ist. Es geht um körperliche Nähe und Intimität, nicht um schnellen Leistungssport.
Der Wechsel vom eher schnellen, orgasmusfixierten Sex auf den langsamen, ziellosen ist aber nicht ganz einfach. Es ist hilfreich wenn wir verstehen, dass wir bisher beim Sex einem “gängigen” Muster gefolgt sind und dass wir das ablegen können. Wir bemerken dann immer öfter, in welchem Moment das Drängen nach einem Orgasmus aufkommt und können stattdessen den Weg in die Entspannung und Offenheit wählen. Sex kann so sogar bis auf mehrere Stunden ausgedehnt werden. Mündet das Ganze dann doch in einem Orgasmus, ist das natürlich auch in Ordnung. Dennoch: seid mutig und wagt es mal aufzuhören, bevor der Orgasmus kommt! Wie fühlt es sich an, wenn diese ganze Energie im Körper bleibt? Es lohnt sich sehr damit zu experimentieren! Der Sex wirkt oft Stunden bis Tage nach…
Der Faktor Zeit spielt in Langzeitbeziehungen oft eine entscheidende Rolle und dies in zweierlei Hinsicht: Erstens, weil sich dadurch die Beziehung (auch die sexuelle!) unweigerlich “abnutzt”, wenn das Paar sich nicht darum kümmert und zweitens, weil ein Paar sich explizit Zeit freischaufeln muss, um gegen Letzteres etwas zu unternehmen!
Zeit ist aber nun mal das rarste Gut frischgebackener Eltern. Wenn die Sexualität einschläft, braucht es als Erstes ein von beiden getragenes Commitment: Ja uns ist das wichtig. Wir wollen eine erfüllende Paarsexualität und sind bereit, uns dafür den nötigen Raum zu schaffen. Das ist nicht so banal, wie es klingt! Und es ist auch völlig in Ordnung, wenn es in den ersten Monaten mit Kind diesen Raum nicht gibt. Wichtig hierbei: Sprecht darüber und überlegt, wie ihr den Faden später wieder aufnehmen wollt. Das verlangt als Eltern nämlich Planung und Organisation. Klingt abturnend? Es ist ungewohnt und braucht ein umdenken. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr mit Planung (wieder) regelmässiger Sex haben werdet, ist aber gross.
Konkret:
Überlegt euch, ob am Abend (nachdem die Kinder endlich schlafen!) wirklich eine gute Zeit für Sex ist? Wer beim Sex die wertvollen eigenen Schlafstunden verrinnen spürt, kann sich schwerlich gehen lassen.
Stattdessen tagsüber (wenn die Kinder in der Kita sind) ab und zu mal ein paar Stunden für Gemeinsamkeit einplanen. Ein Brunch, ein Spaziergang, eine Massage oder ein gemeinsames Zmittag, was auch immer. Es sollte bei diesen Verabredungen kein Sex-Zwang bestehen. Wenn Sex stattfindet, schön, wenn nicht, dann ist auch die gemeinsame Zeit sehr wertvoll! Es geht darum sich als Liebespaar zu erleben und Nähe zu schaffen, woraus die Lust aufeinander wieder geweckt werden kann. Kein Druck!
Wenn irgendwie möglich auch mal ganze kinderfreie Tage (am besten inkl. einer Nacht) organisieren: Grosseltern, Geschwister, Nachbarn, Pateneltern etc. anfragen, unter Umständen auch mit der Info, dass ihr für eine gelingende Paarbeziehung auf das angewiesen seid. Eine gewisse Regelmässigkeit ist auch hier erstrebenswert, denn einmal ist keinmal. Wenn dies gelingt, schafft ihr Räume um all die Tipps im Beitrag anzugehen.
Das klingt alles toll und Ihr würdet ja gerne, aber es geht leider einfach nicht?
Es gibt viele Gründe keinen Sex zu haben…
Ulrich Clement, einer der im deutschen Sprachraum wohl bekanntesten Paar- und Sexualtherapeuten, stellt die steile These auf, dass sich hinter dem vermeintlichen Nicht-können oft ein Nicht-wollen verbirgt. Er belegt seine Vermutung gleich mit unzähligen Veröffentlichungen und einem Buch, welches den frechen Titel “Guter Sex trotz Liebe – Wege aus der verkehrsberuhigten Zone” trägt. Darin werden Paare aufgefordert, sich mit ihrer eigenen sexuellen Persönlichkeit und derjenigen ihres Gegenübers auf eine Weise auseinanderzusetzen, die genauso herausfordernd wie erhellend ist. Es geht um Wünsche, Vorlieben, Fantasien und Tabus, die trotz vieler gemeinsamer Beziehungsjahre vielleicht noch nie wirklich aufs Tapet gebracht wurden oder sich mit der Zeit erst neu entwickelt haben, ohne, dass sie je zur Sprache gekommen sind.
Damit Paare ihr Sexualleben (wieder) aufregender gestalten können, müssen sie sich trauen, ihre wahren Wünsche zu kommunizieren. Oft resignieren sie aus Scham, (falscher) Rücksicht oder Schuldgefühlen genau daran. Wenn sich beide Seiten trauen, wirklich offen über ihre Sexualität zu sprechen, ist der erste Schritt zurück zu einem erfüllten Liebesleben laut Clement geschafft.
Und da schliesst sich der Kreis zum vorangehenden Blog-Beitrag: Eine ehrliche und offene Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Sexualität schafft Intimität und stärkt das Vertrauen in einer Beziehung, was wiederum den Boden für eine erfüllende Sexualität bereitet.
Für variantenreichen Sex ohne vaginale Penetration:
Buch Kommt gut, Jüne Plã, 2020. EMF Verlag.
Für frischen Wind in langjährigen Beziehungen:
Buch Guter Sex trotz Liebe. Wege aus der verkehrsberuhigten Zone, Ulrich Clement, 2015. Ullstein Taschenbuch Verlag.
Buch Keep It Coming, Dania Schiftan, 2021. Piper Verlag.
Für neugierige Forscher:
Buch Klappt’s?, Michael Sztenc, 2023. Hirzel S. Verlag. Auch für Männer mit sexuellen Funktionsstörungen, aber genauso für alle, die sich mal auf neue Weise mit ihrem Penis auseinandersetzen wollen.
Für Entschleuniger und solche die es werden wollen dieser Podcast-Tipp:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-04/entspannung-bett-slow-sex-achtsamkeit-sexpodcast
Alle Bücher von Diana Richardson, wie beispielsweise Slow Sex oder Zeit für Männlichkeit.
Anleitung für mehr Swing im Becken und viele weiterführende interessante Links für mehr Bewegung im Solo-Sex und in der Paarsexualität:
https://www.lilli.ch/becken_bewegen_sex_mann
Von Annina Oliveri, Sexologin und Anthropologin, lebt und arbeitet in Basel. anninaoliveri.ch
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Ob zur Vorbereitung oder zum Nachlesen. Hier findest du unsere Empfehlungen für Väterbücher, die halten, was sie versprechen.