Elf Erkenntnisse aus meiner Elternzeit

Unser Autor hat die ersten Monate nach der Geburt seines Kindes unbezahlten Urlaub genommen. Was es gekostet hat, was es gebracht hat – und wo es auch mal schwierig wurde.
Die ersten 183 Tage als Familie zusammen verbracht: Der Autor mit Kind.
Foto Urs Jaudas

Artikel erschienen im Tagesanzeiger vom 6. Mai 2022

Unser Kind ist jetzt acht Monate alt. Zur Geburt habe ich ein halbes Jahr eine Auszeit genommen, fünf Monate davon unbezahlt. Die ersten sechs Monate als Familie verbrachten wir also zu dritt, Mutter, Vater, Kind – keinen der 183 Tage waren wir getrennt.

Die Zeit wird eine der wertvollsten und prägendsten meines Lebens sein, so viel weiss ich schon. Und die zwei Wochen Urlaub, die Vätern in der Schweiz aktuell zustehen, wirken nach dieser Erfahrung wie ein Hohn. Hier sind elf Erkenntnisse, die ich aus dieser Zeit mitnehme.

1 Schlafmangel gibt es nicht

Was wir als Eltern mit Abstand am häufigsten gefragt werden: Wie sind die Nächte?

Während der gemeinsamen Auszeit war diese Frage noch seltsam unwichtig. Denn wir hatten keine fixen Zeiten, zu denen wir aufstehen mussten, und wir hatten zur Anfangszeit bewusst auch kaum Termine mit Freunden oder Familie abgemacht. Auch wenn die Nächte von Weinen und Stillen unterbrochen wurden: Schlafmangel war kein Thema.

Meistens schliefen wir zu dritt in den Vormittag hinein, solange es das Kind erlaubte. Und auch tagsüber lagen Schlummerchen und Päuschen drin, wenn das Baby schlief oder einer der beiden Elternteile für eine Weile die Betreuung übernahm.

Jetzt, wo ich wieder arbeite, merke ich: Die Unterbrechungen in der Nacht werden erst zur Belastung, wenn man am nächsten Morgen zu einer fixen Zeit irgendwo sein und performen muss. Die ersten Nächte erscheinen nun fast heilig. Wie das Kind auf meiner Brust lag oder zwischen uns, leise atmete und nichts anderes zählte.

2 Die ersten Wochen sind nicht die schwierigsten

Säuglinge werden mit zunehmendem Alter eher anstrengender. Sie schlafen weniger, können mehr, fordern mehr, brauchen mehr aktive Betreuung. Die ersten Wochen waren für uns im Rückblick entspannt, weil das Kind tagsüber stundenlang schlief und sich leicht überall ablegen liess. Das heisst, je länger man zu zweit ist, umso besser kommt man mit den steigenden Anforderungen zurecht – weil man sich aufteilen und unterstützen kann.

Zudem erlebt und lernt das Kind, dass beide Elternteile seine Bedürfnisse stillen können. Das ist eine Investition, von der alle im Familiengefüge später noch profitieren. Beide Elternteile können volle Verantwortung übernehmen. Das bringt Pflichten mit sich, aber schafft dem Einzelnen auch Freiheiten. Oder anders gesagt: Man kann sich nicht mehr vor unangenehmen Aufgaben drücken, dafür auch mal guten Gewissens ins Kino.

3 Die Entdeckung des Instinkts

In den ersten Wochen geht es noch ums nackte Überleben. Alles ist neu, und jeden Tag lernt man Dinge dazu: vom Wickeln übers Trösten und Füttern bis zum Schlafenlegen des Kindes – und all die kleinen Nuancen dazwischen. Mit zunehmendem Wissen wächst aber auch das Vertrauen in die elterliche Intuition – und damit das Selbstvertrauen, bei den Hunderten Entscheidungen pro Tag das Richtige zu tun. Je mehr Zeit man mit dem Kind verbringt, desto besser kann man sich auf die Intuition verlassen. Wenn es um elterliche Gleichstellung geht, geht das nicht ohne das Selbstvertrauen. Beide Elternteile müssen hinstehen und Verantwortung übernehmen können.

4 Genug Zeit zum Üben

Da wird die Elternzeit auch romantisch: Wir hatten viel Zeit zum Käfelen, für ausgedehnte Spaziergänge, erste Restaurant- und Reiseexperimente. Man kann es sich auch immer wieder schön machen – und sich schlicht am Familiesein erfreuen.

Vor unserer ersten längeren Zugfahrt hatte uns eine Hebamme geraten: «Plant einfach genug Zeit am Bahnhof ein.» Genug Zeit nehmen für die unzähligen ersten Male: Das ist in der Elternzeit möglich. Wir haben uns an allerlei herangetastet: ÖV, Autofahrten, das Fliegen, Termine bei der Ärztin, bei Freunden essen oder auswärts. Mit Zeitpuffer wird das Stresslevel solcher Unterfangen deutlich reduziert.

5 Die Werte klären sich von selbst

Wie oft baden wir das Kind? Wann gibts ein Fieberzäpfchen? Was darf es in den Mund nehmen? Da wir vorweg zusammen die wichtigsten Fragen besprechen konnten, haben sich unsere Vorstellungen vom idealen Umgang mit dem Baby fast von allein angeglichen. Wir haben sie, quasi nebenher, laufend verhandelt und festgelegt. Das spart heute Grundsatzdiskussionen.

6 Zu zweit ist man doppelt schlau

Immer wenn ich dachte, ich hätte alles versucht, hatte meine Freundin doch noch eine Idee, und umgekehrt. Es ist so trivial wie wertvoll: Zusammen ist man kreativer. Und das Kind zufriedener.

7 Magie geschieht tagsüber

Sechs Monate zu Hause? Dir wird bestimmt langweilig, hatte man mich vorab gewarnt. In Männerkreisen hält sich die Erzählung hartnäckig, dass Kinder für ihre Väter erst richtig relevant würden, wenn sie circa ein Jahr alt seien. Wenn die Kleinen langsam rumrennen, sich hochwerfen lassen und mit interessanten Dingen spielen oder noch besser: schon einen Ball rumkicken können.

Das ist in mehrfacher Hinsicht dumm. Erziehungsarbeit ist so viel mehr als Spielen und Rumtollen. Es fallen fortlaufend kleine Jobs an, jeden Tag aufs Neue, die es zu erledigen gibt: Auch beim Wickeln, Rumtragen, Einkaufen und In-den-Schlaf-Wie-gen bauen Eltern die Bindung zum Kind auf.

Ein Baby entwickelt sich in den ersten Wochen so rasant, dass auch die alltäglichsten Situationen magische Momente werden können. Das erste Lachen, das erste Greifen nach der Nase, Brabbeln, die erste Träne. Abends, nach der Arbeitszeit, ist dieses Bonding kaum möglich, da ist das Baby quengelig oder schlicht müde.

Mir war an keinem einzigen Tag langweilig. Ausserdem weiss die Forschung mittlerweile, dass Kinder, die in den ersten Lebensmonaten eine stabile Bindung zum Vater aufbauen, später weniger anfällig für psychische Probleme sind.

8 Duschen ist möglich

Das Elternsein ist ein ständiger Kampf um Ressourcen. Das Kind nimmt sich, was es kriegt. Das vielleicht Grossartigste an der gemeinsamen Auszeit hat erst in zweiter Linie mit dem Kind zu tun. Nämlich dass, ganz pauschal, beide Eltern sich immer wieder um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern – und so die Nerven nähren und die Akkus wieder aufladen können.

Das heisst ganz grundlegend: aufs Klo gehen, wenns dringend ist, ausgiebig duschen und noch die wichtigsten Beauty-Schritte durchziehen, mal ein, zwei Stunden länger schlafen, wenn die Nacht hart war, eine Runde Sport machen, um den Körper wieder mal in seiner Kraft zu spüren.

All das lässt sich zu zweit organisieren, auch ganz spontan, ohne Familien-Termin-kalender. An den Anschlag kommt man als Eltern sowieso – das Baby lässt sich nicht beruhigen, die Kleider sind vollgekackt –, und dort leidet dann auch das Kind, wenn Vater oder Mutter weder Nerven noch Energie haben, auf dessen Bedürfnisse einzugehen.

9 Das Wochenbett ist real

Es ist Tatsache, dass eine Mutter sich in den ersten rund acht Wochen von der Geburt erholen und stark schonen muss, nach einem Kaiserschnitt länger als nach einer natürlichen Geburt. Vom sogenannten Wochenbett hatte ich vor der Schwangerschaft noch nie gehört. Es ist eine wunderbar intime und zugleich sehr verletzliche erste Zeit als Familie.

Hier muss der Vater viel tun: Wickeln war in den ersten Wochen mein Job. Und Wasser ans Bett bringen, Essen kochen oder besorgen, die Wäsche, die mehr wird, waschen, gesunde Snacks und Windeln einkaufen, aufräumen, putzen, die Ruhe verteidigen. Nur so kann sich die Mutter regenerieren. Auch das Stillen ist, so natürlich es scheint, enorm kräfteraubend und klappt nicht immer wie gewünscht.

All das nach zwei Wochen allein der Mutter zu überlassen – inklusive des Babys mit seinen ständigen Bedürfnissen – scheint mir nach unserer Erfahrung absurd.

10 Eine Familie ist immer auch ihre Einzelteile

Die Baby-Bubble kann einen verschlucken. Wer sich für eine gemeinsame Elternzeit entscheidet und daneben plötzlich keine grossen, dringenden Aufgaben mehr zu erledigen hat, bei dem wird sich schnell alles nur noch ums Elternsein drehen.

Auch mal rauskommen, mit Nichteltern sprechen, etwas nur für sich tun: Das bleibt wichtig. Man muss es sich immer wieder vornehmen und kann es sich gegenseitig ermöglichen.

11 Die Sache mit dem Geld

Die Entscheidung, eine gemeinsame Elternzeit anzugehen, fiel bei uns etwa ein Jahr vor der Geburt des Kindes. Denn zuerst mussten wir das nötige Geld ansparen. Wir hatten rund 50’000 Franken für die Zeit zur Verfügung – auch dank einem Erbvorbezug.

Ich wäre selbst nicht auf die Idee gekommen, eine Elternzeit zu planen. Die kam von meiner Freundin. Ich sah die Möglichkeit zunächst nicht, den gegebenen Rahmen von zwei Wochen Vaterschaftsurlaub plus ein paar Wochen Ferien zu sprengen.

Jetzt zerreisst es mir das Herz, zu denken, wir hätten das nicht durchgezogen. Ich hätte so viel verpasst. So vieles, das sich nicht wiederholen und nie mehr aufholen lässt. Noch ist es in der Schweiz Privatsache, eine Elternzeit zu finanzieren, und ein Privileg, es sich leisten zu können. Zudem ist sie für Angestellte abhängig vom Entgegenkommen der Vorgesetzten. Nach unserer Auszeit wünschte ich, es wäre für alle möglich, das zu erleben.

Letztlich geht es um eine gesündere Gesellschaft. «Wenn Eltern, gerade eben auch Väter, viel Zeit mit den Kindern verbringen, werden aus den Kindern irgendwann auch gesunde Erwachsene. Eltern müssen vom Staat und der Wirtschaft so gut wie möglich unterstützt werden, denn sie produzieren die nachkommende Generation», sagt die britische Anthropologin Anna Machin im Interview mit der Zeitung Tages-Anzeiger.

Ich weiss nicht, wie es ist, nach der Geburt nur zwei oder vielleicht vier Wochen mit Kind und Mutter zu Hause zu sein. Und ich weiss nicht, wie wir noch einmal soviel Geld sparen können. Aber: Wenn wir mal ein zweites Kind haben sollten, will ich es noch mal genau gleich machen.

Martin Fischer ist Content Manager und Redaktor Tages-Anzeiger im Ressort Leben.
Er schreibt über Popkultur und Gesellschaftsthemen.

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